Obwohl jeder in unserer Gesellschaft früher oder später dem Tod begegnet – sei es dem eigenen, sei es dem eines geliebten Menschen – obwohl es also unausweichlich ist, sich in irgendeiner Form damit auseinanderzusetzen, fällt es den meisten von uns schwer, darüber zu sprechen, sich mitzuteilen, Anteil zu nehmen. Woran liegt das? Vielleicht scheuen wir die Konfrontation mit unserer eigenen Endlichkeit? Vielleicht sind wir unsicher und überfordert und wissen nicht, wie wir uns verhalten sollen? Vielleicht haben wir Angst, dass es uns als nächsten trifft und stecken – ähnlich wie der oft zitierte Vogel Strauß – lieber den Kopf in den Sand, in der Hoffnung, ihm so zu entgehen?
Entscheidend ist sicher auch die Sichtweise auf das, was „danach“ kommt. Für die einen endet alles mit dem Tod. Für die anderen, und dazu gehöre auch ich, ist der Tod nur eine Metamorphose, ein Wechsel in eine neue Energieform, eine andere Dimension.
„Sobald wir alle unsere Arbeiten auf dieser Erde erledigt haben, ist es uns erlaubt unseren Leib abzuwerfen, welcher unsere Seele, wie ein Kokon den Schmetterling, gefangen hält. Wenn die Zeit reif ist, können wir unseren Körper gehen lassen, und wir werden frei sein von Schmerzen, frei von Ängsten und Sorgen, frei wie ein wunderschöner Schmetterling, der heimkehrt zu Gott.“ — Elisabeth Kübler-Ross
Großeltern, Eltern, Lebensgefährte – der Tod hat sich mir schon mehr als einmal gezeigt. Immer war es anders, mal mehr, mal weniger schmerzhaft, sowohl für mich als auch für den Betroffenen. Manchmal war er sogar Erlösung, wenn nach einem langen Leben die Tage nur noch von Schmerz und Leid geprägt waren. Manchmal aber auch unglaublich schwer, weil er so sinnlos erschien.
Wenn der Tod kommt, sind wir machtlos. Es gibt keine „Ausrede“, kein Verhandeln, keine „Verlängerung“. Diese Ausweglosigkeit macht uns unsere Ohnmacht bewusst und kostet viel Kraft, wenn wir versuchen, uns dagegenzustemmen. Manchmal macht sie wütend, manchmal lässt sie verzweifeln, manchmal erfüllt sie mit unendlicher Trauer und tiefem Schmerz. Wie jetzt damit umgehen?
Im April dieses Jahres ist meine Schwester gegangen. Ich habe sie in den letzten Wochen auf ihrem Weg begleitet und, ja, natürlich war im Nachhinein absehbar, dass sie sterben wird. Trotzdem war diese Zeit auch von viel Hoffnung getragen – „was wäre wenn“ und „wer weiß, vielleicht“.
Ich bin unendlich dankbar für diese Tage, für die Möglichkeit, uns auszutauschen, noch einmal Rückschau halten zu können, für die vielen Stunden, in denen wir philosophiert haben, gelacht, geweint, neue Dinge entdecken und unsere Sicht über Leben und Tod austauschen konnten. Gerade in diesen Corona-Zeiten, in denen Angehörige oft genug nicht bei ihren Liebsten sein konnten, ein großes Geschenk.
Ich war auch in ihrer Todesstunde bei ihr und habe sie gehen sehen. Und obwohl ich persönlich fest davon überzeugt bin, dass sie „nur“ ihren Körper verlassen hat, bin ich mit diesem Tod so gar nicht zurechtgekommen. Ich habe ihn als sinnlos empfunden, als unerträglich, als „unlogisch“. Meine Schwester ist zu einem Zeitpunkt gegangen, an dem ihr vieles über sich selbst und das Leben klar geworden war, sie voll neuer Ideen steckte und noch eine Unmenge vorhatte und – sie wollte nicht sterben. Oft genug rief sie mir, wenn ich morgens ins Haus kam, quietschvergnügt zu: „Ich sterbe an einem anderen Tag – heute nicht!“
Erst langsam wird mir klar, wie die Zusammenhänge sind und sie zu verstehen hilft mir dabei, den Tod zu akzeptieren. Wir alle sind auf einer Reise, gehen niemals verloren und verlieren auch einander nicht ...
Durch die Erfahrungen der letzten Monate ist mir eines bewusst geworden: in unserem Leben fehlt der Platz für den Tod.
Viele in meinem Freundeskreis waren mit der Situation komplett überfordert, meldeten sich gar nicht, wünschten per WhatsApp „viel Kraft“, sagten „ruf an, wenn Du Hilfe brauchst“ – keine Frage, dieser Anruf wird nie gemacht – und vermittelten mir das Gefühl, mit alldem lieber nichts zu tun haben zu wollen. Das macht einsam in einer Zeit, in der man ohnehin völlig überfordert und hilflos ist.
Deshalb mein Appell an alle: duckt Euch nicht weg. Seid da – auch ungefragt – wenn ihr nur irgend könnt und nehmt in Kauf, dass ihr vielleicht auch einmal ungelegen kommt. Erkennt und zeigt Eure Verbundenheit, anstatt so zu tun, als seien wir alle voneinander getrennt. Überwindet Eure Angst – es wird auch Euch guttun. Ich habe mir vorgenommen, das in Zukunft so zu halten, wann immer mir Trauer und Tod begegnen, denn ich habe gespürt, wie sehr mir die Anteilnahme anderer geholfen hat.
Bei der Beerdigung stand mein Sohn wie ein Fels in der Brandung hinter mir. Das hat mir Halt gegeben. Und drei ganz unterschiedliche Frauen waren für mich da – jede auf ihre Weise. Eine brachte mir den schönsten Blumenstrauß der Welt und nahm mich einfach in den Arm. Eine hat sich täglich bei mir gemeldet und mir zugehört, die dritte war mir sehr nah und hat mich tief berührt, getröstet und die Augen für neue Perspektiven geöffnet. Ich bin so dankbar für diese Hilfe, ohne die ich jetzt nicht schon so weit vorangekommen wäre.
In einem der Gespräche kam der Satz „das ist jetzt für Dich so schwer, weil Du die letzte dieser Generation bist. Es gibt niemanden mehr, mit dem Du Deine Vergangenheit mit-teilen kannst.“ Das traf es sehr gut. Und ich bin dabei, zu erkennen, dass das nicht schlimm ist. Denn alle sind da, auch wenn ich sie nicht sehe. Manchmal kann ich sie spüren.
Zeit – ohnehin ein unterschätzter Begleiter. „Zeit heilt alle Wunden“ – das würde ich so nicht unterschreiben. Aber es braucht Zeit, und die müssen wir uns nehmen, wenn uns etwas begegnet, was uns so erschüttert. Nicht ohne Grund gab es früher ein Trauerjahr. In dieser Zeit durchleben wir den Jahreszyklus ohne die Begleitung des geliebten Menschen zum ersten Mal. Das gibt uns Gelegenheit, uns zu verabschieden und loszulassen.
Nehmt Euch selbst auch die Zeit, wenn Ihr in einer ähnlichen Situation seid. Geht in die Natur, lasst Euren Gedanken freien Lauf, trauert, schreit, weint, tut Euch Gutes.
Und noch eine "Essence of Life", die mir in den letzten Wochen erneut sehr deutlich vor Augen geführt worden ist: Lebt den Augenblick, genießt ihn, verschiebt Eure Wünsche nicht in die Zukunft, erfüllt sie JETZT.
Jeder Tod ist anders, jede Trauer auch. Wir haben verlernt, damit umzugehen.
Lasst es uns neu lernen.
Juni 2020
Nachtrag: Nachdem viele von Euch diesen Beitrag gelesen haben und die ein oder andere Reaktion über meine persönlichen Netzwerke bei mir angekommen ist, ist mir bewusst geworden, wie viele Menschen dieses Thema berührt. Ich habe ich mich deshalb dazu entschlossen, einen Forumsbeitrag hierzu zu eröffnen. Wenn Ihr mögt, hinterlasst doch dort Eure Gedanken, Ideen, Anregungen, Erfahrungen und teilt sie mit uns allen. Ich würde mich freuen. 💜
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